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TFTW #3: Yoshiko und die Grenzen der Meinungsfreiheit

Kolumne

Article information
Published on:
24.02.2015, 23:09 
Category:
Series:
Tales from the Webmaster (All entries of this article series)
Author(s):
Nachdem mein langjähriger Kollege STRIGGA am Montagmorgen die Newsmeldung um den Main Event zwischen Act Yasukawa und Yoshiko bei der jüngsten Stardom-TV-Aufzeichnung veröffentlicht hatte, begannen die Emotionen hochzukochen. Wer den Artikel nicht gelesen hat, dem empfehle ich dieses zu tun, denn er ist nicht nur exzellent geschrieben, sondern auch relevant für diesen Artikel. Aus menschlicher Sicht sind die emotionalen Reaktionen von vielen Fans verständlich, denn auch wenn uns nicht alle Details des Vorfalls und erst recht keine Motive bekannt sind, so sympatisieren wir doch instinktiv mit dem aus objektiver Beobachtung offensichtlichen Opfer. Mir geht es persönlich genauso, daher werde ich auch gar nicht versuchen, irgendwelche Worte dafür zu verschwenden, um die Aktionen von Yoshiko an diesem Abend zu rechtfertigen oder zu erklären. Ich finde das Verhalten unprofessionell und abstoßend.

Die emotionalen Reaktionen haben auch dazu geführt, dass das Bewertungsprofil von Yoshiko innerhalb der letzten 24 Stunden um einige 0-Punkte-Wertungen erweitert wurde. Aus rein statistischer Sicht ist das relevant, weil Yoshiko vorher mit zwei 10-, einer 7- und einer 5-Punkte-Wertung gar nicht so schlecht da stand. Aber wie schon bei anderen Wrestlern in der Vergangenheit kann ein einziger Moment die komplette Wahrnehmung umdrehen und frühere Fans so abstoßen, dass sie sich komplett von einer Person abwenden (Stichwort: Chris Benoit).

Das Problem ist nun allerdings eine Formalität. Die Bewertungsregeln der Seite, der Guide zum Bewertungssystem und viele andere offizielle Kommentare und Artikel stellen klar, dass nur die Einträge bewertet werden dürfen, die man tatsächlich selbst gesehen oder miterlebt hat. Einige der 0-Punkte-Wertungen stammten nach jeweils eigener Aussage allerdings von Nutzern, die von Yoshiko bis zu der Newsmeldung noch nie etwas gehört hatten. Und es mag kleinkariert sein, aber das ist ein Verstoß gegen das Bewertungssystem: die Bewertung von Wrestlern an Hand von Gerüchten, Hörensagen oder selbst Newsmeldungen ist schlicht nicht gestattet.

Warum ist das nicht gestattet? Nun, ganz einfach: Weil es Präzedenzfälle setzt, die ermöglichen, dass mehr und mehr Nutzer es ganz genauso machen. Und dann nicht nur, um die vermeintlich negativen Beispiele unserer Spezies zu bestrafen, sondern auch, um Ranglisten zu manipulieren; um ihren Buddies zu besseren oder ihren Rivalen zu schlechteren Wertungen zu verhelfen; und um generell die Idee eines im Kollektiv möglichst glaubwürdigen Bewertungssystems ad absurdum zu führen.

Wenn wir die Missachtung unserer eigenen Regeln zur öffentlichen Abmahnung von -- vereinfacht ausgedrückt -- "schlechten Menschen" zulassen würden, stünden wir vor einem anderen Dilemma: Wo ist denn die Grenze? Ist die Grenze bei Yoshiko, die sich im Ring unprofessionell verhalten und ihre Gegnerin mit Absicht verletzt hat -- wohlgemerkt ebenso wie wahrscheinlich 80% aller Wrestling"lehrer" im letzten Jahrhundert? Ist die Grenze bei mutmaßlichen Mördern wie Benoit oder Invader #1, selbst wenn diese eventuell vor Gericht freigesprochen wurden oder es -- wie immer -- besondere Umstände wie Gehirnschäden gab? Immerhin "weiß ja jeder", dass Invader #1 Bruiser Brody kaltblütig abgestochen hat -- wir waren immerhin alle dabei! Oder nicht? Ist die 0-Punkte-Wertung für Invader #1, die man wegen "historisch anerkannten Fakten" vergibt aus persönlicher Sicht wirklich fundierter als die 0-Punkte-Wertung für den lokalen Wrestler X, der mich bei der letzten Liveshow angespuckt und beschimpft hat? Letzteres hat man wenigstens selbst erlebt oder gesehen...

Es ist nicht mein Ziel, euch den Sinn für Gerechtigkeit zu nehmen. Es ist auch nicht mein Ziel, die mutmaßlichen Taten von Invader #1 oder Chris Benoit oder Yoshiko oder Wrestler X zu verteidigen. Es geht mir darum, dass ihr versteht, was das Bewertungssystem ausmachen soll, nämlich persönliche, subjektive Bewertungen an Hand von eigenen Erlebnissen widerzuspiegeln. Eine Gesamtwertung ist nur dann aussagekräftig und interessant, wenn sie auf so vielen individuellen "Erlebnisberichten" und -wertungen basiert wie möglich.

Und natürlich ist mir klar, dass das eine Idealvorstellung ist und dass es Hunderte, gar Tausende Beispiele im Bewertungssystem gibt, wo Nutzer eben doch eine Bewertung abgegeben haben, die nicht auf eigenen Erlebnissen beruht, sondern weil irgendjemand geschrieben hat, dass der/die Wrestler/Event/Promo total geil/scheiße gewesen ist. Das ist so, das wissen wir im Team. Aber wir gehen dagegen vor, so gut wir können. Das schlimmste finden wir sofort. Andere Sachen erst nach Wochen, Monaten oder teilweise gar nach Jahren. Manches geht uns tatsächlich durch die Lappen oder wir können einfach nicht nachweisen, dass sich da jemand eine Wertung aus den Fingern gesogen hat. Aber in den Fällen, in denen wir es beweisen können, greifen wir mit Warnungen, Verwarnungen bis hin zu Sperrungen durch -- insbesondere, wenn Nutzer es selbst zugeben.

Aber was ist mit der Meinungsfreiheit?

In den letzten acht Jahren, seit Bestehen des Bewertungssystems, habe ich bestimmt zwei bis drei Dutzend E-Mails zu dem Thema erhalten, normalerweise von Nutzern, die eine Verwarnung erhalten haben. Was ist also mit der Meinungsfreiheit? Zählt denn deine Meinungsfreiheit mehr als die anderer Nutzer? Zählen unfundierte 0-Punkte-Wertungen oder Beleidigungen von anderen Nutzern zu einer zu tolerierenden Meinungsfreiheit? Darüber könnte man sicherlich philosophieren und streiten -- zum Glück habe ich das schon vor knapp zehn Jahren gemacht.

Ich persönlich bin ein großer Verfechter der Meinungsfreiheit. Man hat die Freiheit, eine Meinung zu haben. Das Problem ist, dass gerade im Internet die Meinungsfreiheit oftmals als Recht verstanden wird, die eigene Meinung nicht nur in die große weite Welt hinausposaunen zu dürfen, sondern auch alle anderen Meinungen zu ignorieren. Wie jeder halbwegs lebenserfahrene Mensch gelernt hat, gibt es -- sobald es um eine Gruppe von Menschen geht -- eine natürliche Grenze, was die Meinungsfreiheit angeht. Ohne jetzt allzu philosophisch werden zu wollen (bloß nicht schon wieder...), ist es meine persönliche Überzeugung, dass derjenige aus der Gruppe, der von seiner Meinungsfreiheit immer und ohne Rücksicht auf andere Gebrauch macht, langfristig nicht mehr Teil von dieser Gruppe sein wird.

Im Internet ist es noch schwieriger. Die Gruppe der Menschen ist größer und hat ganz unterschiedliche Interessen, Lebenserfahrungen und Einstellungen. Ein direkter Kontakt fehlt meistens, so dass die natürliche Grenze sich nicht wirklich aufbauen kann. Sieben Milliarden Jahre und der Gipfel der Evolution benimmt sich auf Reddit, YouTube oder Facebook wie die letzten Arschlöcher. Dort, wo jedes Thema plötzlich durch Grundsatzdebatten über Jesus, Justin Bieber oder Hentai ersetzt werden kann; dort tummeln sie sich, die großen Verfechter der Meinungsfreiheit. Und wenn euch das gefällt, bitteschön. An YouTube interessieren mich persönlich zwar eher die Videos, aber jedem das seine - siehe Meinungsfreiheit.

Weil ich aber nicht möchte, dass auf CAGEMATCH ähnliche Zustände herrschen, gibt es Regeln. Regeln auf dem Cageboard und Regeln im Bewertungssystem, eben überall wo Nutzer aufeinander treffen. Was die Meinungsfreiheit angeht, so ist es mir im Normalfall herzlich egal, was für Wertungen ihr vergebt oder was ihr dazu schreibt -- solange ihr es gemäß der Regeln macht. Und das heißt: keine Bewertung von Wrestlern/etc., die ihr nicht persönlich erlebt habt (Gründe wurden oben erklärt), keine Beleidigung von Wrestlern oder anderen Nutzern, keine systematische Falschbewertung, und noch ein paar weitere Regeln.

Es steht euch frei, anderer Meinung zu sein. Und das dürft ihr auch ruhig äußern. Aber wenn ihr am Bewertungssystem teilnehmen möchtet (was übrigens ebenfalls eure freie Entscheidung ist), dann müsst ihr akzeptieren, dass es Regeln und Grenzen gibt, an die sich alle zu halten haben. Ohne Ausnahme. Auch wenn die Wut aus menschlicher Sicht über Aktionen wie die von Yoshiko verständlich ist.