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Chris Kanyon: Loose Cannon en gay?

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Published on:
14.02.2006, 00:00 
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„Unwissenheit ist ein Segen“, heißt eine wichtige Lehre, die man aus Matrix gezogen hat. Fürs Wrestling gilt es ganz besonders: Je weniger der Fan weiß, umso mehr Spaß hat er daran, so die Grundregel. Dummerweise weiß der Fan von heute dank des World Wide Web scheinbar so gut wie alles. Umso mehr faszinieren die Storys und Gimmicks, bei denen keiner so recht weiß, was real ist und was nicht. Jerry Lawler und Andy Kaufman in den Achtzigern, die „Loose Cannon“ Brian Pillman in den Neunzigern und zuletzt Matt Hardy – allen gelang es, selbst die bestinformierten Fans an der Nase herumzuführen. Nun versucht Chris Kanyon mit seinem (vermeintlichen?) Outing als Homosexueller, sich in diese Liste einzureihen.

Bei einer Indy-Show in Kanada erklärte Kanyon den Fans dass er schwul sei und glaube, genau deswegen aus der WWE entlassen worden zu sein – nur um ein paar Tage später in seinem Blog die Frage aufzuwerfen, ob Chris Klucsaritis, die Person hinter dem Kanyon-Gimmick, damit auch schwul ist: „Ich biete euch eine Gelegenheit über gut, böse, Heel, Face, Sport, Realität, Fake und Storyline hinaus zu denken. Ich biete euch einen Charakter, der euch zwingt, einen Blick auf euch selbst zu werfen – eure Gedanken, Glaubenssätze und Gefühle.“

Kanyon rührt dabei an einem empfindlichen Themengebiet. Wie in anderen Männersportarten auch weiß jeder, dass es Homo- und Bisexuelle in der Szene gibt, es werden Andeutungen gemacht – man denke an Jim Ross’ beinahe legendäre Anmerkung „He’s Single, Fellas!“ über Pat Patterson – aber keiner spricht es offen aus. Es gibt eine Reihe von schwulen Gimmicks, die jedoch allesamt von Leuten gespielt, die im wirklichen Leben das genaue Gegenteil sind. Solle Chris Kanyon tatsächlich schwul sein, wäre in der Tat der erste, der sich völlig offen dazu bekennt.

Mortal Kombat, Triaden und Champagner

In diesem Fall wäre es auch mal wieder ein ziemlicher Treppenwitz, wenn man bedenkt, mit welchem Gimmick der gelernte Physiotherapeut seinerzeit die WCW-Bühne betrat: Als Bauarbeiter im Jobber-Tag Team Men At Work. Bald darauf ließ sich die Turner-Company ein neues Gimmick für Kanyon einfallen: Für den düsteren Mortis-Charakter stand die Figur Shao Khan aus dem Brutalo-Videospiel Mortal Kombat Pate.

Kanyon bekam eine Skelettmaske, James Vandenburg (Father James Mitchell) als Manager und eine Fehde gegen Glacier. Genau hier lag der Fehler: Glacier - nach dem Vorbild von Sub-Zero aus demselben Game geschnitzt - war ebenfalls ein Neuling und niemanden interessierte, was die beiden Grünschnäbel miteinander zu schaffen hatten.

Nach der stillen Beerdigung der Story war Kanyon, dessen Spitznamen „Innovator of Offense“ von seinem unorthodoxem Ringstil herrührte, außerdem als Fehdengegner und Partner von Raven, als Mitglied der Jersey Triad von Diamond Dallas Page und als selbstverliebter Hollywood-Schnösel Chris „Champagne“ Kanyon zu sehen.

Stunts innner- und außerhalb des Rings

Das Gimmick hatte einen realen Hintergrund: Kanyon nahm sich in der WCW mehrere Auszeiten, um als Stuntman und -koordinator in der Traumfabrik zu arbeiten – zuerst für die „Jesse Ventura Story“, dann für das WCW-Projekt Ready To Rumble, wo er den Hauptdarsteller Oliver Platt doublete. Kanyon war außerdem der Trainer der diversen Celebritys, die von der WCW für Auftritte im Ring engagiert worden – unter anderem den zeitweiligen WCW Champion David Arquette. In der Fehde zwischen Arquette sowie Diamond Dallas Page und Jeff Jarrett mischte Kanyon auch vor der Kamera mit. Beim Triple Cage Match der drei bei Slamboree 2000 nahm Kanyon einen denkwürdigen Bump von der Spitze des Konstrukts auf die Eingangsrampe.

Nach seiner Rückkehr turnte Kanyon gegen seinen Freund DDP und begann, ihn nachzuahmen. Er setzte sich eine blonde Perücke auf, nannte sich – in Anlehnung an Pages Motivationsbuch – Positively Kanyon und stahl ihm auch seinen Finisher. Die Fehde zog sich bis ins Jahr 2001 und fand kein richtiges Ende, da die WWF die WCW vorher aufkaufte.

Langwierige Leidensgeschichte

In der WWF war Kanyon dann Teil der groß angelegten Invasions-Storyline. Nachdem ihm Booker T den US Title überreichte bezeichnete er sich als „Alliance MVP“. Gemeinsam mit DDP konnte er sich außerdem die WWF Tag Team Titel umschnallen. Kurz darauf begann jedoch eine nicht enden wollende Leidensgeschichte für Kanyon: Bei einem Dark Match gegen Randy Orton im Oktober 2001 riss er sich das Kreuzband. Als er sich bei OVW im Sommer darauf auf sein Comeback vorbereitete, verletzte er sich erneut schwer: Er quetschte sich den oberen Oberarm und erlitt eine Muskelentzündung an der Schulter.

Nach der nötigen Operation klagte Kanyon über Atemprobleme und musste mit Medikamenten behandelt werden. Weil er gegen diese allergisch war füllten sich seine Lungen mit Wasser und seine Blutwerte sanken bedrohlich. Kanyon erholte sich nur langsam und verlor 15 Kilogramm Gewicht.

“Entlasst doch das Kreativteam!“

Anfang 2003 gab er sein Comeback bei SmackDown: Als Boy George verkleidet, kam er aus einer riesigen Holzkiste und sang für den Undertaker „Do you really want to hurt me?“ – irgendwie schwer zu glauben, dass die WWE damals nichts von Kanyons Homosexualität gewusst haben soll. Anfang 2004 entließ die WWE Kanyon – mit der Begründung, dass das Kreativteam keine Ideen für ihn habe. Kanyons lapidare Antwort: „Dann solltet ihr besser das Kreativteam entlassen.“

Nach seiner Kündigung kämpfte Kanyon mit psychischen Problemen: Er wurde als manisch-depressiv diagnostiziert und auf Antidepressiva gesetzt. Er beendete Mitte 2004 seine aktive Karriere, nur um ein Jahr darauf vom Rücktritt zurückzutreten. Trotzdem machte er eher außerhalb des Rings Schlagzeilen: Im Oktober 2005 wurde er in Florida wegen „ordnungswidrigem Verhalten und gewaltlosem Widerstand gegen die Staatsgewalt“ verhaftet, als er bei einer Schlägerei schlichten wollte. Zwei Monate später feierte er eine Rückkehr vor größerem Publikum, als er unter dem Pseudonym Chris K einen – bislang – einmaligen Auftritt für TNA Wrestling absolvierte.

Kanyons Statement sorgt für Diskussionsstoff: Ist es schäbig, ein Tabuthema zu instrumentalisieren, um sich ins Gespräch zu bringen? Oder ist es nicht eigentlich auch lobenswert einen schwulen Charakter fernab von Federboas und Flachwitzen zu kreieren? Warum sollte Vince McMahon, der Pat Patterson zu seinem Taufpaten gemacht hat, Kanyon wegen seiner Homosexualität feuern? Und was hat Kanyon nun eigentlich vor? Viele Fragen, viel Raum für Spekulation und viele mögliche Antworten – eigentlich recht gute Voraussetzungen für eine Gimmickidee.
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