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Vince Russo: Videothekar, Messias, Antichrist

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Published on:
22.09.2006, 00:00 
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Manche lieben ihn, viele hassen ihn, dazwischen gibt es nichts. Für die einen ist er ein Messias, der die WWE aus dem Abgrund ins gelobte Land geführt, die WCW vom Krebsgeschwür Hulk Hogan befreit und nur deswegen ein paar Misserfolge in der Bilanz hat, weil seine genialen Ideen von missgünstigen Betonköpfen hintertrieben wurden. Für die anderen ist er der Antichrist, dessen Einfluss auf den WWE-Aufschwung maßlos überbewertet ist, der der WCW den Todeskuss verpasst und das gesamte Business vergiftet hat. Eine Meinung hat zumindest jeder informierte Wrestlingfan zu dem neuen TNA-Booker Vince Russo.

Im Wrestlinggeschäft selbst hat es wohl höchstens Hulk Hogan geschafft, sich mehr Feinde als Russo zu schaffen: Mean Gene Okerlund nennt ihn „ein Stück Scheiße“, Roddy Piper befand, dass er „jede Liga ruiniert hat, bei der er angestellt war“ und Jim Cornette ist durch ihn sogar zum Atheisten geworden: „Wenn es einen Gott gebe, dann würde Vince Russo nicht im Wrestlinggeschäft sein.“ Es war jedoch nicht Gott, sondern die Firma Blockbuster Video, die Russo in das Business brachte.

Russo besaß bis Anfang der Neunziger zwei Videotheken in seiner Heimatstadt New York, die Pleite gingen, als die Verleihkette in der Stadt zu expandieren begann. Russo stand finanziell mit dem Rücken zu Wand, als er einen Brief an Vince McMahons Frau Linda schrieb, der ihm einen Posten als Schreiber beim offiziellen WWF-Magazin einbrachte. Russos Pseudo-Insider-News als „Der Informant“ und seine beißende Kolumnen unter dem Pseudonym „Vic Venom“ brachten frischen Wind in das dröge Fanmagazin.

Crash-TV statt Familienunterhaltung

Mit der Zeit wurde auch Vince McMahon auf Russo aufmerksam, der ab 1996 auf Einladung vom damaligen WWF-Booker Bill Watts beim Kreativteam hineinschnuppern durfte. Die Zustände dort beängstigten Russo: „Vince war umgeben von Ja-Sagern, die ihm alles erzählten, was er hören wollte – egal ob es falsch oder richtig war.“ Russo hatte das Glück, dass sich McMahon in einer seiner seltenen Phasen befand, in der er für Ideen von außen offen war. Die Quoten der WWF waren im Keller, während die WCW mit ihrer NWO-Storyline an der Liga vorbeizog. McMahon merkte, dass sich etwas ändern musste und machte Russo zum Chefwriter.

Russos Rezept für den Weg aus der Krise war radikal: Die damals praktizierte Familienunterhaltung wurde in die Tonne getreten, stattdessen richtete man sich nach einem jungen, männlichen und sensationsgierigen Publikum aus. Russo entsorgte Cartoon-Charaktere wie Doink den Clown oder den Klempner TL Hopper und erschuf gewagte Gimmicks wie Goldust oder Val Venis. Er setzte auf das Konzept „Crash-TV“: Kontroverse Storylines und Schockeffekte, Gossensprache, Insider-Gags in Richtung des „smarten“ Publikums, viel nackte Frauenhaut und lieber ein Turn zu viel als einer zu wenig.

Vor allem hieß „Crash-TV“ eines: Mehr Entertainment, weniger Wrestling. Die Matches wurden unter Russo kürzer und dienten zum großen Teil als Mittel zum Zweck, um Storylines weiter zu führen. „Das Wrestling darf der Story nicht im Weg stehen“, soll Russo einmal gesagt haben. Russo hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass das Wrestling im klassischen Sinne nie seine Sache war. Er hat nie ein Tape aus Japan oder Mexiko eingelegt und hat auch die alte WWWF wegen den Valiant Brothers und Lou Albano, nicht wegen Backlund und Sammartino geschaut. Er war ein Vollblut-Sports-Entertainer.

Zerstörung des eigenen Mythos

In den darauf folgenden Jahren schmiss Russo mit McMahon und seiner rechten Hand Ed Ferrara den Laden praktisch im Alleingang. „Ich war praktisch an der Hüfte mit Vince zusammengeschweißt“, erinnert er sich. Die Arbeitsteilung sah zumeist wie folgt aus: Russo kam mit einer ausgefallen Idee an und McMahon redigierte sie so, dass sie in ein Wrestlingprogramm passte. Das was dabei heraus kam, war die Attitude-Ära und der größte Boom der Liga seit Hulkamania-Zeiten. Russo jedoch hatte irgendwann genug von den stressigen 70-Stunden-Tagen, die noch schlimmer zu werden drohten, als durch die Einführung von SmackDown! noch zwei weitere Stunden geschrieben werden mussten. Völlig überraschend wechselte Russo 1999 daher zur WCW.

Damals glaubten viele Beobachter, dass das vermeintliche Kreativgenie die kriselnde Liga wieder auf Siegkurs bringen würde. Einer tat das nicht: „In zwei Jahren wird er aus dem Geschäft sein“, prophezeite der ausgebootete Jim Cornette: „Ohne die Organisation der WWF hinter ihm, wird er geradewegs aufs Maul fallen.“ Was damals klang, wie das Nachkarten einen verbitterten Ex-Kollegen, traf exakt so ein, wie Cornette es vorher gesagt hatte. Russo entzauberte in Atlanta seinen Mythos und im Jahr 2001 war nicht nur er aus dem Geschäft, sondern auch die ganze Liga.

Russo fing mit seinem Stil in der WCW genau da an, wo er bei der WWF aufgehört hatte – und ignorierte dabei, dass die Fans, für die er jetzt schrieb, zum großen Teil anders tickten. Zuschauerstudien damals ergaben, dass die Nitro-Zuschauer sich mehr Wrestling, weniger Segmente und sinnvollere Storylines wünschten – Russo steuerte bei all diesen Punkten in die exakt andere Richtung. Es zeigte sich, dass Russo als Alleinverantwortlichem die Instanz fehlte, die seine Einfälle in die richtigen Bahnen lenkte. Seinen Shows fehlte der rote Faden, außerdem waren sie so übersät mit Insider-Anspielungen, dass der Normalfan sie schon kaum mehr verstehen konnte.

Man hatte oft den Eindruck, dass es Russo mehr Wert darauf legte, in seinen Storylines alte Rechnungen mit seinen Ex-Kollegen zu begleichen als Faninteresse mit ihnen zu wecken. Tiefpunkt all dessen war der geschmacklose Oklahoma-Charakter, mit dem Russo Jim Ross und seine Gesichtslähmung aufs Korn nahm – und nebenbei noch die Cruiserweight-Division begrub. Die Einschaltquoten gingen unter Russo in die Höhe – die Pay-Per-View-Käufe und die Zuschauerzahlen bei Liveshows sackten dagegen ins Bodenlose. Mit anderen Worten: Russos Produkt zog Zuschauer vor den Bildschirm, Geld ausgeben wollten sie dagegen nicht für ihn.

Hinwendung zu Gott

In der WWF war es Russos Verdienst, den Traditionalisten eine Perspektive von außerhalb der „Wrestlingblase“ aufzuzeigen. Doch Russo hat nie verstanden, wo Schluss sein musste mit dem Aufbrechen von vermeintlich Altmodischem: Seine beinahe lustvolle Demontage von Legenden wie Ric Flair verschlimmerte die Situation der WCW ebenso wie die Wertminderung der Titelgürtel, die für ihn „bedeutungslose Requisiten“ waren. In den 35 Wochen unter Russos Ägide wechselte der WCW World Title 20-mal – unter anderem zu Schauspieler David Arquette, Russo selbst und zum Schluss beinahe auch noch zu dem talent- und charismafreien Shootfighter Tank Abbott. Als Russo diese Idee aufbrachte, zog die WCW den Stecker.

Seitdem absolvierte Russo ein kurzes Intermezzo bei der kurzlebigen WWA-Promotion, wo er jedoch genauso schnell wieder weg vom Fenster wie bei der WWE, wo er 2002 für knapp ein halbe Woche als Kreativberater einstieg. Zweimal heuerte er seitdem auch schon bei als Booker und On-Air-Charakter bei TNA an, wo er jedoch auch nicht an alte Erfolge anknüpfen konnte. Das letzte was man von Russo hörte, war dass er zum wiedergeborenen Christ bekehrt wurde und eine religiöse Promotion namens „Ring of Glory“ eröffnete.

Vereinzelte Fans spekulierten schon, dass der Höhepunkt der ersten Show sein würde, dass Russo einen Überraschungs-Turn zu Satan hinlegen würde. Aber Russo ist es ernst mit der Hinwendung zum Glauben. Er war für ihn ein Weg aus den Depressionen, in die das Wrestlinggeschäft ihn getrieben hatte. Während es seine Gegner und Kritiker früher grob gesagt als alphabetisierte Primaten abkanzelte, deren Horizont einfach nicht zu seinem Genie reicht, ist er heute milder geworden. Mittlerweile hat sich Russo auch bei Jim Ross entschuldigt und seine Bookingideen früherer Tage öffentlich als „Dreck“ bezeichnet. Ohne Frage: Vince Russo ist ein besserer Mensch geworden. Ob er auch ein besserer Booker geworden ist, wird sich bald zeigen.